- Marcel Niedermann vom Schweizer Fernsehen fragt an
- Ich gehe nur spontan und es gibt keine gestellten Szenen
- Aufs Geratewohl entscheide ich mich für den Chüeboden
- Das Wetter etwas unbeständig, Termin Mittwoch oder Donnerstag
- Die Sigelbahn, einfach und praktisch mit Selbstbedienung
- Ein alter knorzliger Baumstamm, schönes Schattenspiel
- Der Junior von Albert Neff eilt vorbei, er hilft dem Vater beim Melken
- Alphornspiel im steilen Gelände mitten auf der Kuhweide, kein Echo
- Einige Tiere kommen ganz nah, der Senn schaut mit dem Feldstecher zu
- Ich spiele 7 Stücke, beim Buchriiberli beginne ich mehrmals
- Schrecksekunde, Gabriel der Kameramann schlipft aus
- Der Senn verschwindet in seiner Hütte, ist er zornig?
- Albert & Anna Mazenauer, ein sehr liebenswertes Paar
- Sie sind schon 37 Jahre auf der Alp, sie zeigen uns das Schellengspiel
- Sein Sohn ist vor genau 4 Jahren nach der Bollewees Stobete gestorben
- Ein Glas Saft, 2x ein letztes Alphornstück, danach verabschieden wir uns
- Bei der Alp Sämtis liegt eine Person mit einer Decke draussen auf einer Bank
- Das verdiente Nachtessen im Plattenbödeli, Madleina Küng serviert
- Mit Taschenlampe das Brüeltobel hinunter, plötzlich funkeln 2 Augen
Im Mai 2014 fragt mich Marcel Niedermann vom Schweizer Fernsehen an, ob er einmal auf eine Alp-Horn Tour mitkommen darf. Das Projekt scheint ihn zu interessieren, ich erkläre ihm, dass ich in der Regel alleine unterwegs bin und es immer relativ spontan abläuft. Das heisst, dass frühestens einen Tag im Voraus geplant wird und die Verhältnisse der Ziel-Alp immer unbekannt sind. Schön wäre natürlich, wenn ein Älpler-Paar anzutreffen sei, das gibt immer interessante Gespräche, Kühe oder Geissen sollten auch nicht fehlen und natürlich wäre es wunderschön, wenn beim Spielen noch ein Echo ertönen würde. Nur, dieses ist tontechnisch fast unmöglich aufzunehmen… Marcel ist begeistert und meint, er und sein Team seien sehr flexibel, ich solle ihn doch bitte informieren beim nächsten Mal. Mir ist es etwas unwohl dabei, alles spontan, aufs Geratewohl und mit Kamerateam, live Tonaufnahmen, wenn das nur gut geht – möchte ich das überhaupt, ist das mein Ziel? Eigentlich eher nicht, ich möchte auch niemanden bloss stellen, was bei einem Überfall auf eine Alp aber sehr gut passieren könnte.
Bei uns stehen erstmal die Sommerferien an, wir reisen für eine Woche nach Schottland und die Geschichte mit dem Fernsehen gerät deshalb etwas in den Hintergrund. Am Montag nach den Ferien telefoniert Marcel aber prompt ins Geschäft und hakt nach, er arbeite noch bis Ende Juli, danach sei er ferienhalber bis Ende August weg. „Guet“, meine ich, „denn packe mes. I cha de efach fö nützde garantiere, me gönd wie besproche spontan, i we niemed dröbe informiere dromm chas halt au efach i d’Hose goh. I lueg emol wegere passende Alp ond sobald i gsie, dass s’Wette mitmacht möld i mi.“ Nach unserem Telefongespräch beginne ich zu rechnen, es bleiben nur noch fünf möglich Termine vor Marcel’s Ferien! Jetzt bleibt nicht mehr viel Zeit um zu studieren, diese Woche hat der Wetterbericht am Mittwoch und Donnerstag voraussichtlich regenfrei aber unbeständig, das könnte klappen. Die Wahl auf die Destination fällt ebenfalls kurzentschlossen aus. Mit der Schwebebahn zum Sigel, danach ein kurzer und wenig anstrengender Fussmarsch bis zur Alp Chüeboden. Am Dienstagmorgen informiere ich Marcel darüber, erst planen wir auf Mittwochabend, weil ihm aber kurz nach unserem Gespräch noch etwas dazwischen kommt schieben wir alles auf den Donnerstag.
Wir treffen uns um 17:00 beim Parkplatz der Sigelbahn, Marcel hat Kameramann Gabriel dabei und zwei sehr schwere Rucksäcke mit Material. Die Seilbahn wird nicht betreut, deshalb steht in der Talstation ein Billett Automat. Wichtig ist einfach, dass man genügend Kleingeld, es gehen auch Noten, mit dabei hat. Wir steigen in die Gondel ein und warten einen Moment, es passiert nichts obwohl der Automatikbetrieb eingeschaltet ist. Ich bin mir nie ganz sicher, ob man trotzdem noch auf den Knopf über der Gondeltür drücken muss oder nicht. Jedenfalls beginnt die Fahrt erst nachdem ich da drauf gedrückt habe, ein lautes Piepsen ertönt, die Türe schliesst sich und die Fahrt beginnt. Nach nur 7 Minuten sind wir bereits 740 Meter höher auf 1662 Meter über Meer und mit dem Wetter haben wir heute richtig Glück, eine wunderschöne Abendstimmung.
Unterwegs von der Bergstation zur Alp Sigel treffen wir nach kurzem Marsch auf einen liegenden, dürren Tannenbaum. Die Rinde ist wahrscheinlich schon länger weggefallen, denn das Holz schimmert in silbergrauem Ton. Ich vermute, dass dieser Baum im letzten Jahr noch irgendwo dürr in der Wiese gestanden ist und irgendein Sturm ihm noch den Rest gab. Die vielen Äste und Wurzeln lassen den Stamm mit denen im Licht wechselnden Schatten fast lebendig erscheinen. Ich bin fasziniert von ihm und möchte eine erste Installation erstellen, Marcel und Gabriel äussern sich anfangs nicht gross, erst als ich das Alphorn durch die wuchtigen Wurzeln stecke sind sie sehr begeistert und beginnen zu filmen.
Die beiden möchten auch festhalten wie ich unterwegs bin, deshalb muss ich etwas voraus marschieren. Marcel meint mit St.Galler Dialekt: „Du darfsch bim verbiigoh eifach nöd i d’Kamera und au nöd zrugg luege, eifach so wie süs, wie wemer garnöd do send.“ Gesagt getan, ich gehe so weit bis sie mich nicht mehr sehen können, danach warte ich. Nun kommt der Junior von Albert Neff, der Senn vom Sigel, bei mir mit eilenden Schritten vorbei. Er hat keine Zeit zum Reden und meint im Vorbeigehen: „Bi e chli spoht dra, de Bape het siche scho agfange mit Mölche.“ Eigentlich wollte ich ihm noch unseren Billettausdruck von der Seilbahn abgeben, denn dieser ist ein 1,5m langes, weisses Papier. Ich vermute, dass die Druckerpatrone leer ist. „Jä no“, später treffen wir dann noch Vater Albert der die Info gerne entgegen nimmt. Nun kommt von der anderen Seite ein älteres Ehepaar, der Mann sieht das Alphorn und spricht mich mit gebrochenem Deutsch an: „Sprechen sie französisch?“ Ich muss lachen, damit habe ich nun doch nicht gerechnet, „leider nein“ muss ich eingestehen. Irgendwie geben sie mir zu verstehen, dass sie die Seilbahn suchen. Da es schon 17:50 ist und die Bahn nur bis 18:00 fährt, grabe ich meine letzten Kenntnisse hervor und sage: „A sis ör e fini“ sie schauen mich mit grossen Augen an, zeigen auf die Armbanduhr, ich hake nach: „in dis Minüt“. Ich glaube sie haben mich verstanden, jedenfalls eilen sie so schnell es ihr Alter zulässt Richtung meiner Hand.
Nun gelangen wir aufs Gelände vom Chüeboden, es ist relativ steil. Marcel möchte wissen wie ich nun vorgehe. Es sind einige Kühe auf der Weide und von weitem kann man einen Sennen vor der Hütte erkennen. In diesem Fall möchte ich zuerst etwas oberhalb der Hütte Alphorn spielen. Ich mache die beiden darauf aufmerksam, dass die Kühe sehr nahe kommen können und manchmal ziemlich neugierig sind. „E mönd abe ke Angscht ha, si tönd eme nützte.“ Tatsächlich ist es dann auch so, dass die Tiere bereits beim Einrichten näher kommen, zwei gehen sogar auf Kontaktfühlung. Eine Kuh verfolgt Gabriel auf Schritt und Tritt, irgendwann während dem Filmen wird es ihm dann doch zu bunt und er macht wilde Handbewegungen damit sie sich etwas entfernt. Der Senn hat in der Zwischenzeit einen Feldstecher organisiert und schaut ganz neugierig nach oben, ui, wenn das nur keinen Ärger gibt. Die Dreharbeiten nehmen viel Zeit in Anspruch, ich spiele währenddessen sieben Stücke, ein Echo ist leider keines zu hören. Mal möchte Marcel von dieser, mal von der anderen Seite filmen, oder dann von unten und zu guter Letzt hat Gabriel auch noch den Wunsch nur Tonaufnahmen zu machen. Dabei immer volle Konzentration, alle Töne von Beginn an sauber treffen und möglichst keine Verspritzer, das ist sehr streng. Beim Buuchiiberli muss ich dann tatsächlich mehrmals beginnen weil der Anfangston, das hohe G‘‘‘, nicht schön anspricht, danach läuft alles wie geschmiert. Nur der Senn da unten denkt sicher, die spinnen da oben…
Beim Zusammenpacken passiert dann das was ich halbwegs vorausgeahnt habe, Gabriel schlipft mit seiner Kamera im steilen und noch nassen Gelände aus und fällt der Länge nach hin, oh Schreck. Zum grossen Glück ist ihm und auch der teuren Kamera nichts passiert. Nun möchte ich runter zum Senn und ihm erklären was wir da tun. Als wir näher kommen, verschwindet er gerade in der Hütte, eieiei, ist er etwa zornig? Nein, zusammen mit seiner Frau kommt er wieder raus, beide begrüssen uns dann sehr freundlich. Anna und Albert Mazenauer, mit Spitznamen „Stägeli“. Er bedankt sich für das schöne Alphornspiel und meint: „Isch scho ebe lang, dass nebid do obe Alphorn blose het. Etz sömme scho 37 Alpsömme do ond i mag mi gad a e enzigs Mol erinnere.“ Beide sind sehr offen und zeigen uns alles Sehenswerte. Zuerst holen sie die Geissen aus dem Stall, darunter ist auch ein junger Bock der sehr schön gelocktes Haar auf der Stirne trägt. Danach dürfen wir in die Hütte, denn über dem Bett, das direkt links neben der Eingangstür steht, hängt ein Gspiel Schellen. Man merkt, dass dies ihnen sehr viel bedeutet, es ist auch nicht üblich, dass auf einer Alp sowas anzutreffen ist. Die Hütte ist sehr einfach aber heimelig eingerichtet, auf der gegenüberliegenden Wand steht ein Holzhärdli zum Kochen und über dem Tisch dazwischen hängt eine Gaslampe, Strom gibt es keinen. Albert meint: „En Fenseh brucheme do obe nüd, me mönd gad verusi luege, d’Beg sönd do e so schö. Ond wenns emol trüeb isch, denn macheme en Jass, göll Anne?“ Beide lachen sich herzlich zu. „Solang me no mögid ond gsond sönd, luegid me do zo dere Alp.“
Ich frage Albert, ob ich noch ein paar Bilder rund um die Gebäude machen darf, er meint: „sölbvestendlech“. Wir beide gehen alleine runter zur Melster. Albert erklärt mir, dass schon der alte Zimmermann Hersche selig meinte, dass diese Melster eine der ältesten Alpbauten in Innerrhoden sein müsse. Es gibt kein Fundament, alles steht auf Bollensteinen und die gestrickten Wände scheinen wirklich sehr alt zu sein. Wenn es ihm gehören würde, hätte er die Gebäude schon lange renoviert. Eine neue Türe zur Hütte wäre das Erste was ansteht. Auf der unteren Seite der Melster steht ein grosser Regentank, ich stecke mein Alphorn von oben hinein und lehne es beim Dach an die Rinne. Nun beginnt Albert mir eine traurige Geschichte zu erzählen und fragt mich, ob ich seinen Sohn kenne, der vor genau vier Jahren nach der „Bollestobete“ tödlich verunglückt ist. Ich mag mich noch schwach erinnern, dass da etwas passiert war, verwechselte das Ereignis aber zuerst mit einem Unglück wo ein Jugendlicher im Seealpsee ertrank. Er erklärte mir dann, dass er frühmorgens um 05:00 von der Bollewees her kommend, auf dem Weg zur Arbeit einen Sekundenschlaf hatte und mit dem Auto bei der Brücke vom Hallenbad runter gefahren ist. Er war sofort tot. Jetzt mag ich mich wieder erinnern und frage ihn: „Denn isch deseb Bluemestruss wo allewile bim Broggeglende stoht siche vo eu.“ Seit diesem tragischen Unfall steht regelmässig ein neuer Blumenstrauss an genau dieser Stelle. Albert nimmt ein Nastuch aus seiner Hosentasche und wischt sich die Tränen aus den Augen. „Jo genau, d’Anne luegt amel, dass imme en frische dei stoht. Da isch s’Schlimmscht wo eme cha passiere, wenn me de ägä Bueb mos begrabe.“ Ich bin sehr gerührt und bekomme ebenfalls wässrige Augen.
Nun stossen Marcel und Gabriel zu uns, sie möchten noch ein Interview aufnehmen. Auf der Mistplatte steht eine alte Güllenpumpe, ein wunderschönes „Möbel“. Albert meint, dass er sie nächstens ersetzen muss, sie funktioniert nicht mehr richtig. Mich fasziniert sie aber sehr, ich liebe solch alte Gusseisenkörper mit Schwungrad und Keilriemen. Zwei Teile vom Alphorn kann ich problemlos platzieren, mit dem dritten wird es etwas schwieriger. Oben beim Ansaugstutzen stelle ich es darauf, es möchte aber einfach nicht richtig im Gleichgewicht stehen bleiben. Nach langem probieren gelingt es dann doch, ich bleibe aber angespannt weil es durch den kleinsten Luftstoss runterfallen könnte. Marcel und Gabriel stehen bereits parat, ich schiesse ein paar Bilder und danach können sie mit dem Interview beginnen. Nachdem sie fertig sind, drehe ich mich um und möchte möglichst schnell mein Holzrohr aus der gefährlichen Lage befreien. Genau in diesem Moment fällt es runter, ich zucke zusammen und mache mir grosse Sorgen. Zum grossen Glück bleibt es unbeschadet.
Anna und Albert laden uns abschliessend für ein Glas Saft ein. Dabei geniessen wir jeden Schluck einzeln, denn in Anbetracht dass sie alle Lebensmittel mühsam von Sämtis hochtragen müssen, bekomme ich fast ein schlechtes Gewissen. Nun ist es schon spät, wir verabschieden uns, das heisst Marcel möchte diese Scene noch festhalten. Ich spiele deshalb zum Abschied ein letztes Stück, das Rugusserli. Danach packe ich zusammen, winke ein letztes Mal und marschiere davon. Nach 50 Metern ruft mich Marcel zurück, die Bilder seien gut aber Gabriel möchte dieses Stück nochmals als Tonaufnahme festhalten, es hat ihm so gut gefallen. Ich hoffe nur, dass es auch beim zweiten Mal gleich gut gelingt. Anna und Albert sitzen nach wie vor auf der Bank vor der Hütte und geniessen den ausklingenden Abend in vollen Zügen.
Nun bedanken wir uns für alles und machen uns auf den Weg. Unterwegs bleibt Gabriel plötzlich stehen. Er hat einen Kuhfladen entdeckt wo jemand ein Herz hineingezeichnet hat, das sieht schon sehr speziell aus. Als wir zur Alp Sämtis kommen ist es bereits schon recht dunkel. Vor der Alphütte liegt eine Person eingehüllt in eine Wolldecke auf der Bank und schläft, wie lange wohl? Mir erscheint die Körperhaltung jedenfalls nicht sehr entspannend. Rund um den Sämtisersee stehen einige Zelte und einige Lagerfeuer leuchten in die laue Sommernacht, es wird eine der einzigen in diesem Sommer sein. Beim Plattenbödeli machen wir Halt und besprechen ob wir einkehren sollen. Gabriel meint, er habe so einen Kohldampf, dass er nur mit kommt, wenn er etwas essen kann, sonst würde er lieber direkt nach Hause. Das stimmt auch für Marcel und mich, auch wenn wir keinen Hunger haben. Im leeren Gartenrestaurant setzen wir uns hin, ich staune nicht schlecht als uns dann Madleina Küng bedient. Sie studiert momentan in Innsbruck Bassgeige und verdient sich so einen Teil ihres Lebensunterhalts.
Als wir aufbrechen ist es bereits 22:30 und stockdunkel. Mit Stirnlampen auf dem Kopf marschieren wir das Brüeltobel hinunter. Gabriel benutzt gerne meine Wanderstöcke da seine Knie nun doch etwas schmerzen. Plötzlich erschrecken wir und sehen auf der rechten Seite etwas oberhalb der Strasse zwei leuchtende Augen in der Dunkelheit. Als wir etwas näher kommen, entspannt sich die Situation. Es ist nur eine Katze die uns mit ihren funkelnden Augen hinter einem Baum beobachtet. Etwas erleichtert kommen wir dann beim Parkplatz an, ich bedanke ich mich bei den beiden und bin sehr froh, dass wir so viel Glück hatten. Die Gegebenheiten auf der Alp und auch das Wetter, heute hat einfach alles gepasst. Nun bin ich sehr neugierig wie der Fernsehbericht ausfallen wird.